Ist rotes Fleisch wirklich ungesund? Faktencheck und konkrete Empfehlungen!
Johannes Steinhart, Biomedizin (M.Sc.) & Trainer des Deutschen Fitnesslehrer Vereinigung e.V.
Oft ist zu hören, man solle aus gesundheitlichen Gründen weniger rotes Fleisch essen. Der Zeitgeist ist sich sicher: Fleisch ist ungesund.
Eine Vielzahl von Beobachtungsstudien zeigt tatsächlich, dass Krankheiten wie Krebs, Herzkrankheiten und Typ 2 Diabetes gehäuft bei hohem Konsum von rotem Fleisch auftreten.1Carr PR, Walter V, Brenner H, Hoffmeister M. Meat subtypes and their association with colorectal cancer: Systematic review and meta-analysis. Int J Cancer. 2016 Jan 15;138(2):293-302. doi: 10.1002/ijc.29423. Epub 2015 Feb 24. Review. PubMed PMID: 25583132.2Farvid MS, Stern MC, Norat T, Sasazuki S, Vineis P, Weijenberg MP, Wolk A, Wu K, Stewart BW, Cho E. Consumption of red and processed meat and breast cancer incidence: A systematic review and meta-analysis of prospective studies. Int J Cancer. 2018 Dec 1;143(11):2787-2799. doi: 10.1002/ijc.31848. Epub 2018 Oct 3. PubMed PMID: 30183083. 3Kim K, Hyeon J, Lee SA, Kwon SO, Lee H, Keum N, Lee JK, Park SM. Role of Total, Red, Processed, and White Meat Consumption in Stroke Incidence and Mortality: A Systematic Review and Meta-Analysis of Prospective Cohort Studies. J Am Heart Assoc. 2017 Aug 30;6(9). pii: e005983. doi: 10.1161/JAHA.117.005983. Review. PubMed PMID: 28855166; PubMed Central PMCID: PMC5634267.4Schwingshackl L, Hoffmann G, Lampousi AM, Knüppel S, Iqbal K, Schwedhelm C, Bechthold A, Schlesinger S, Boeing H. Food groups and risk of type 2 diabetes mellitus: a systematic review and meta-analysis of prospective studies. Eur J Epidemiol. 2017 May;32(5):363-375. doi: 10.1007/s10654-017-0246-y. Epub 2017 Apr 10. Review. PubMed PMID: 28397016; PubMed Central PMCID: PMC5506108.
Nicht zuletzt deshalb empfiehlt die deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), nicht mehr als 300-600 g Fleisch und Wurst pro Woche zu verzehren. Für jeden Fleischesser sind das natürlich geradezu homöopathische Mengen.5https://www.dge.de/fileadmin/public/doc/fm/10-Regeln-der-DGE.pdf
Aber fußt diese Empfehlung und der weit verbreitete Glaube an Fleisch als Übeltäter wirklich auf qualitativer Evidenz?
Eine neue Studie des NutriRECS-Konsortiums stellt diese Empfehlungen in Frage.6Johnston BC, Zeraatkar D, Han MA, et al. Unprocessed Red Meat and Processed Meat Consumption: Dietary Guideline Recommendations From the Nutritional Recommendations (NutriRECS) Consortium. Ann Intern Med. 2019; [Epub ahead of print 1 October 2019]. doi: 10.7326/M19-1621 Link Die ZEIT titelt sogleich: “Forscher sehen keinen Grund, auf rotes Fleisch zu verzichten”.
Kann man nun wieder mit dem Segen der Wissenschaft ungezügelt rotes Fleisch vertilgen? Schauen wir uns das genauer an:
Die Hauptaussage der NutriRECS-Studie lautet zusammengefasst:
- Die Beweislage für die bisherigen Empfehlungen, weniger rotes Fleisch zu essen, ist sehr dünn.
- Legt man die höchsten Qualitätsstandards an die Auswertung der bisherigen Studien an, sieht der statistische Zusammenhang auf einmal doch “schwach” bis “sehr schwach” aus.
- Rotes Fleisch ursächlich verantwortlich für negative Gesundheitseffekte? Sehr unsicher!
Das Forscher-Team kommt aufgrund dieser Datenlage zu dem Schluss: Keine Empfehlung zur Änderung des bisherigen Roten Fleisch-Konsums.
Die NutriRECS-Studie schaut dafür, was eine Reduktion des Fleischkonsums um 3 Portionen pro Woche bringen würde. Ergebnis: Es sind keine positiven Gesundheitseffekte zu erwarten.
Das ist natürlich eine starke Aussage!
Hört man doch auf der einen Seite ständig die Empfehlung, den Konsum von rotem Fleisch zu reduzieren. Und jetzt soll das gar nicht mehr notwendig sein?
Diese widersprüchlichen Statements sind natürlich Wasser auf die Mühlen der Wissenschaftsskeptiker, die schon immer zu wissen glauben: “Heute sagen die Wissenschaftler dies, morgen das”.
Bei genauerer Betrachtung löst sich dieser Widerspruch aber auf: Das NutriRECS-Forscherteam hat keine anderen Daten als diejenigen, die auch die Wissenschaftler der bisherigen Studien verwendet hatten. Nur hat das NutriRECS-Forscherteam die höchsten Qualitätsansprüche für ihre Interpretation der Daten angelegt. Dafür verwendeten sie die “GRADE-Kriterien”, wie es auch bei der Zulassung von Medikamenten üblich ist.7https://bestpractice.bmj.com/info/us/toolkit/learn-ebm/what-is-grade/
Die Vertreter des etablierten Paradigmas sind jedoch nicht ganz einverstanden mit diesem Vorgehen. Gegenwind kommt von der „weniger rotes Fleisch“-Fraktion: Die Harvard Universität nimmt Stellung und betont:
- Für optimale Gesundheit und Umweltverträglichkeit ist eine pflanzenbasierte Ernährung mit relativ wenig rotem und verarbeitetem Fleisch nach wie vor die erste Wahl.
- Die geringen negativen Auswirkungen in der NutriRECS-Analyse seien in der Annahme eines geringen roten Fleischkonsums von 2-4 mal pro Woche begründet. Daher kam auch keine Reduktionsempfehlung heraus. Für jemanden, der 6-7x rotes Fleisch pro Woche äße, seien die negativen Gesundheitseffekte von rotem Fleisch vermutlich sehr deutlich.
- Die Anlegung von höchsten Qualitätsstandards an die Ernährungsforschung wie mit den GRADE-Kriterien sei ungerechtfertigt. Würde man dies bei Obst, Gemüse, Zucker-Limonaden, körperlicher Aktivität oder passivem Rauchen genauso rigoros tun, wäre der statistische Zusammenhang auch nicht viel besser.
Ist die neue NutriRECS-Studie also nur das Ergebnis einiger Wissenschaftler, die mal ordentlich in die Schlagzeilen kommen wollten? Oder wird hier gerade das vorherrschende Paradigma aus den Angeln gehoben und man kann so viel rotes Fleisch essen, wie man will?
Auf jeden Fall sind die neuen Ergebnisse eine Erinnerung daran, dass die Beweislage oft umstrittener und weniger eindeutig ist, als von der Anti-Fleisch-Fraktion dargestellt.
Alle Daten bedürfen noch der menschlichen Interpretation. Dies eröffnet die Möglichkeit für unterschiedliche Perspektiven.
Nichtsdestotrotz sind auch die vielen etablierten Wissenschaftler nicht auf den Kopf gefallen. Rotes (verarbeitetes) Fleisch wie Salami, Würstchen, Speck und Co. sticht doch in vielen großen Beobachtungsstudien immer wieder negativ heraus – auffälligerweise nicht nur für Krebs, sondern parallel auch für andere Krankheitsbilder.
Die Effekte sind also für verarbeitetes Fleisch da, auch wenn sie klein sind.
Beobachtungsstudien sind jedoch nicht dazu geeignet, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu belegen. Es kann zum Beispiel immer sein, dass Menschen, die viel rotes (verarbeitetes) Fleisch essen, gleichzeitig öfter rauchen, übergewichtig sind oder wenig Sport treiben.
Diese Störfaktoren versucht man zwar herauszurechnen. Doch ob das immer zu 100% bewerkstelligt werden kann, ist fraglich.
So bleibt es sehr schwer einzuschätzen, wie die Gesundheitsrisiken für jemanden aussehen, der zwar 5x pro Woche mageres rotes Fleisch, dazu aber sehr viel Gemüse und Obst isst und außerdem Kraft- und Ausdauertraining betreibt.
Warum sollte rotes Fleisch auf einmal ungesund sein? Die evolutionäre Perspektive
Aus einer evolutionshistorischen Sicht halten einige Wissenschaftler die Gesundheitsgefahren von rotem Fleisch für unwahrscheinlich und sehen diese keineswegs durch solide wissenschaftliche Beweise gestützt.8https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10408398.2019.1657063 Hier einige Zitate:
„Obwohl Fleisch seit Millionen von Jahren ein zentraler Bestandteil der menschlichen Ernährung ist, fördern einige Ernährungsbehörden, die häufig enge Verbindungen zu Tierschützern oder anderen Formen des ideologischen Vegetarismus – wie dem Seventh-day Adventist Church haben (Banta et al. , 2018) – die Ansicht, dass Fleisch eine Vielzahl von Gesundheitsproblemen verursacht und keinen postiven Wert habe.“
Das ist ein gewichtiger Gedanke: Warum soll Fleisch, das seit Millionen Jahren ein zentraler Bestandteil unserer Ernährung ist, auf einmal ungesund sein? Ist das wahrscheinlich?
Das bezieht sich natürlich vor allem auf unverarbeitetes Fleisch, wie es auch dem Jäger und Sammler früher zugänglich war. Nicht gemeint sind damit Würstchen, Frikadellen und Co.
„Wir behaupten: ein großer Teil dieser Erzählung beruht auf herausgepickten Beobachtungsstudien von geringer Qualität. Die plumpe Behauptung, rotes Fleisch sei ein „ungesundes Lebensmittel“ (Willett et al., 2019), wird nicht unterstützt.
Aufgrund falscher Darstellungen des Standes der Wissenschaft versuchen einige Organisationen, die politischen Entscheidungsträger dazu zu bewegen, Maßnahmen zur Reduzierung des Fleischkonsums zu ergreifen.“
Das ist derselbe Punkt wie bei der NutriRECS-Studie: Studien von geringer Qualität werden passend zum gewünschten Ergebnis verzerrt dargestellt. Unpassende Studien gezielt weggelassen.
„Fleisch war und ist eine wichtige Quelle für qualitativ hochwertige Ernährung. Die Theorie, dass es durch Hülsenfrüchte und Nahrungsergänzungsmittel ersetzt werden kann, ist reine Spekulation.
Während sich fleischreiche Diäten in der langen Geschichte unserer Spezies als erfolgreich erwiesen haben, sind die Vorteile vegetarischer Diäten noch lange nicht bekannt, und ihre Gefahren wurden von denjenigen, die sie aufgrund fragwürdiger Beweise vorzeitig befürwortet haben, weitgehend ignoriert.“
Vegetarismus und vor allem Veganismus bleibt evolutionär gesehen ein Experiment. Auch wenn erste Studien beispielsweise positive Effekte für Herz-Kreislauferkrankungen oder Krebs plausibel erscheinen lassen.9Dinu M, Abbate R, Gensini GF, Casini A, Sofi F. Vegetarian, vegan diets and multiple health outcomes: A systematic review with meta-analysis of observational studies. Crit Rev Food Sci Nutr. 2017;57(17):3640‐3649. doi:10.1080/10408398.2016.1138447 Damit sind nicht alle komplexen Auswirkungen dieser Ernährungsformen untersucht.
Es ist außerdem nicht bewiesen, dass die positiven Effekte von Vegetarismus durch den Verzicht auf Fleisch zustande kommt.
Plausibler wäre hier sogar, den Mehrkonsum von Pflanzen oder generell eine Verbesserung der Ernährungsqualität zu vermuten.
Fazit und konkrete Empfehlungen
Die Aussage, Fleisch sei generell ungesund, ist plump und undifferenziert. Oft getrieben von Wunschvorstellungen und weniger von einer überzeugenden Beweisführung.
Wir sagen:
Verarbeitetes rotes Fleisch hat negative gesundheitliche Auswirkungen. Für „echtes“ rotes Fleisch sind die Effekte viel geringer. Bei weißem Fleisch wie Geflügel gibt es keine gesundheitlichen Bedenken.
Wie verhältst du dich nun angesichts dieser Situation am besten? Hier sind unsere Tipps, die wir unter der Berücksichtigung der aktuellen Datenlage für empfehlenswert halten:
- Kaum oder gar kein verarbeitetes Fleisch wie Schinken, Salami, Speck, sonstige Wurst und Co. – Die Weltgesundheitsorganisation sieht überzeugende Evidenz für deren krebserregende Eigenschaften10https://www.who.int/features/qa/cancer-red-meat/en/ Für “echtes” rotes Fleisch gilt das nicht.
- Echtes rotes Fleisch in Maßen: Ein Filet oder Steak ist wohl recht sicher nicht der Teufel auf Erden, sollte aber auch nicht morgens, mittags und abends auf dem Speiseplan stehen. Willst du auf Nummer sicher gehen, orientiere dich an 3 Portionen oder weniger pro Woche. Das ist die Empfehlung des World Cancer Research Fund.11https://www.wcrf.org/dietandcancer/recommendations/limit-red-processed-meat Damit bist du auf der sicheren Seite – und sollte diese Einschränkung tatsächlich nicht notwendig sein, ist es auch kein Beinbruch.
- Rindfleisch zur CO2-Reduktion stark zurückfahren. Für den CO2-Ausstoß ist Rindfleisch mit großem Abstand der größte Übeltäter. Ersetze dieses mit Geflügel, Fisch oder noch besser mit pflanzlichen Eiweißquellen, um weniger Treibhausgase zu produzieren.
- Rotes Fleisch ist eine exzellente Quelle für qualitatives Eiweiß, Eisen, Zink, Vitamin B12, einige B-Vitamine, Phosphor und Selen. Das sollte bei aller Aufregung nicht vergessen werden.
Tipp: Öfters mal Fisch, Geflügel, Bohnen und Nüsse als Eiweißquellen nutzen. Hier findest du eine Auswahl an eiweißreichen Lebensmitteln.
Insgesamt sollte man sich wegen des Verzehrs von rotem Fleisch im Hinblick auf die Gesundheit nicht den Kopf zerbrechen. Man lebt nicht völlig gesund, wenn man darauf verzichtet, und es macht wohl auch nicht viel aus, wenn man öfters mal Steak und Schnitzel verspeist.
Rotes Fleisch ist nur eine Komponente unserer gesamten Ernährung und es ist unwahrscheinlich, dass ein einziges Lebensmittel unsere Gesundheit in großem Maße positiv oder negativ beeinflusst.
Viel mehr kommt es auf die komplette Ernährung, Bewegung und andere Lebensstilfaktoren über lange Zeiträume hinweg an.
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Kommentare (2)
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Über den Autor
Johannes Steinhart ist Master of Science (M.Sc.) in Biomedizin & Ernährungswissenschaften sowie Fitnesstrainer der Deutschen Fitnesslehrer Vereinigung (DFLV). Seine Passion ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse zu Abnehmen, Muskelaufbau und Gesundheit unabhängig, verständlich und praxisnah darzustellen und verbreitete Unwahrheiten zurückzudrängen. Johannes ist Gründer von science-fitness.de (SF). Jedes Jahr erreicht er über 2 Mio. Leser. Außerdem ist er Autor von aktuell 6 Büchern. Mehr.
Nunja, der Mensch wird nicht ohne Grund mit einem Allesfresser-Gebiss geboren. Würde die Natur wollen, dass wir uns vegetarisch oder gar vegan ernähren, dann würden wir das auch anhand unseres Beißwerkzeuges wissen (mal abgesehen von den o.g. Vorteilen einer Fleisch beinhaltenden Ernährung).
„Man lebt nicht völlig gesund, wenn man darauf verzichtet“
Sollte es nicht „ungesund“ heißen?
In diesem Artikel steht ja die Gesundheit des Menschen im Mittelpunkt. Aber da auch die Umwelt angesprochen wird, hätte ich es schön gefunden, wenn man auch noch das Wohl der Tiere ein bisschen mitbedacht hätte. Es ist nicht gut, ausschließlich sein eigenes Wohl im Blick zu haben.
Die Betonung möglicher Gefahren einer fleischfreien Ernährung und die Einordnung als „Experiment“ halte ich für unangemessen.