Science Fitness

Auf keinen Fall „unter“ dem Grundumsatz essen?!

Mai, 2022

Johannes Steinhart, Biomedizin (M.Sc.) & Trainer des Deutschen Fitnesslehrer Vereinigung e.V.

Häufig wird behauptet, man dürfe „auf keinen Fall „unter“ dem Grundumsatz essen„.

Denn dann drohe der „Hungerstoffwechsel“. Der Körper schalte sozusagen auf Sparflamme, was wiederum Tür und Tor für den Jojo-Effekt öffne.

Die Angst: Sobald man im „Hungerstoffwechsel“ sei, könne man nur noch schwer oder gar nicht mehr weiter abnehmen.

Doch stimmt diese Annahme überhaupt?

Der Grundumsatz bezeichnet die Menge an Kalorien, die du verbrauchst, wenn du 24 h ruhig im Bett liegst. Ohne etwas zu essen. Ohne jegliche Bewegung. Weder stehen, gehen, geschweige denn Sport.

Mit dem Grundumsatz deckt der Körper grundlegende Funktionen, wie beispielsweise Wärmeproduktion, Organaktivität, Zellteilungen, Enzymaktivität ab.

Bei einem durchschnittlichen Menschen macht der Grundumsatz ca. 50–60 % des gesamten Tagesbedarfs aus.

 

Zusammensetzung des Energieverbrauchs (Detail-Artikel dazu).

 

Intuitiv ergibt die Vorstellung Sinn, dass die Kalorienzufuhr über die Ernährung keines Falls diese Schwelle des Grundumsatzes unterschreiten sollte.

Ansonsten müsste der Körper ja diese Grundfunktionen zurückfahren. Das kann schließlich nicht gut sein, oder?

Aber so funktioniert der Körper nicht

Schauen wir uns das an einem Beispiel an:

Eine Person hat einen täglichen Gesamtumsatz von 2000 kcal. Der Grundumsatz beträgt 1000 kcal.

Weder ist sie mit einer Kalorienzufuhr von 1100 kcal am Tag vor jeglichem „Hungerstoffwechsel“ geschützt, noch mit 900 kcal im gefährlichen Bereich.

Der Körper hat keinen Schalter, mit dem er auf einmal die Grundfunktionen einschränkt. Diese Vorstellung basiert auf einer maschinenhaften Vorstellung des Körpers.

Die Regulation des Stoffwechsels ist ein höchst dynamischer Prozess, in den viel mehr Faktoren mit hineinwirken.

Zum Beispiel steht dem Körper nicht nur die Energie aus der unmittelbaren Ernährung zur Verfügung.

Er kann fehlende Kalorien aus riesigen Energiedepots mobilisieren (selbst Normalgewichtige haben > 100.000 kcal als Fett gespeichert). Ein Effekt, den man sich beim Abnehmen ja bewusst zunutze macht.

“Aber macht es denn dann überhaupt nichts, wenn ich so wenig esse?”

Doch!

Mit zunehmender Diätdauer versucht dein Körper, weniger Energie zu verbrauchen und mit der vorhandenen Energie effizienter umzugehen. Das Hormon Leptin fällt ab, was hauptverantwortlich für diese Veränderungen ist.1Dubuc GR, Phinney SD, Stern JS, Havel PJ. Changes of serum leptin and endocrine and metabolic parameters after 7 days of energy restriction in men and women. Metabolism. 1998 Apr;47(4):429-34. doi: 10.1016/s0026-0495(98)90055-5. PMID: 9550541.2Obradovic M, Sudar-Milovanovic E, Soskic S, Essack M, Arya S, Stewart AJ, Gojobori T, Isenovic ER. Leptin and Obesity: Role and Clinical Implication. Front Endocrinol (Lausanne). 2021 May 18;12:585887. doi: 10.3389/fendo.2021.585887. PMID: 34084149; PMCID: PMC8167040.

Diese hormonellen Veränderungen bewirken durchaus eine Art von Hungerstoffwechsel. So kann es bspw. passieren, dass dein Körper die Körpertemperatur leicht senkt, du weniger Lust auf kleinste Bewegungen (NEAT) hast usw.

Allerdings sind diese Anpassungen nie so gravierend, dass sie deine Fettabnahme stoppen würden. Sie verkleinern lediglich dein Kaloriendefizit ein wenig.

Willst du das Phänomen des Hungerstoffwechsels noch besser verstehen, lies den Artikel: Hungerstoffwechsel: Was ist wirklich dran? Darin erfährst du, welche Anteile deines Energieverbrauchs in einer Diät wirklich absinken können und was du jeweils dagegen tun kannst.

Ob und wie stark diese Anpassungen wirken, ist immer eine Frage davon, wie bedrohlich dein Körper deine Fettabnahme empfindet. Bedrohlich im evolutionären Sinne. Denn Fettspeicher waren für die nächste Hungersnot oder schwere Krankheit überlebenswichtig. Waren diese Fettspeicher zu klein, war das Überleben gefährdet.

Folgende Faktoren sind für die empfundene Bedrohlichkeit wichtig:

  1. Wie hoch ist dein Körperfettanteil (KFA)? Bei hohem KFA hast du oft 200.000 bis 300.000 Kcal als Fett gespeichert. Da fühlt sich dein Körper selbst bei geringer Kalorienzufuhr über längere Zeit nicht so schnell bedroht. Je eher dein KFA über 15 % (Männer) bzw. 25 % (Frauen) ist, desto eher bist du auf der sicheren Seite (dein KFA hier berechnen). Daher kannst du hier (falls gewünscht) auch mit großen Defiziten arbeiten (wie in der High Speed Diät). Dabei kann die Kalorienzufuhr schon mal in die Nähe des Grundumsatzes kommen. 
  2. Die Größe des Kaloriendefizits – Je größer das Defizit, desto größer der bedrohliche Effekt. Dieser Faktor ist jedoch nicht isoliert von den anderen Punkten zu betrachten. Es ist zudem ein gradueller Prozess 0 % bis 100 % Kaloriendefizit, ohne magische Schwelle exakt über dem Grundumsatz.
  3. Wie lange bist du schon im Kaloriendefizit? Es ist etwas völlig anderes, ob du 2–4 Wochen ein hohes Defizit fährst oder dasselbe über mehrere Monate machst. Nicht nur die Größe des Kaloriendefizits ist wichtig, sondern auch wie lange dieses angewandt wird. Ein kleines Defizit doppelt so lange hat am Ende ähnliche Effekte wie ein großes Defizit halb so lange. Entscheide dich für den Weg, der dir subjektiv angenehmer erscheint.
  4. Protein, Fette, Vitamine, Mineralien? Wenn Protein und essenzielle Fette fehlen, wird sich dein Stoffwechsel schneller bedroht fühlen. Dasselbe gilt für bestimmte Vitamine und Mineralien.
  5. Refeeds & Diätpausen? Diätpausen mit vielen Kalorien und Kohlenhydraten liefern ein Entspannungssignal. In diesen Phasen kann das Leptin wieder ansteigen. Die Diät wird so immer wieder bewusst unterbrochen, um den Stoffwechselanpassungen entgegenzuwirken. Das nutzen wir bspw. bewusst in unseren Diät-Programmen, bei denen häufige Refeeds und Diätpausen fester Teil des Plans sind.
  6. Zu viel Training – Zu viel Training und ein großes Defizit gehen nicht lange gut. Mit dieser Kombination fühlt sich dein Körper maximal bedroht.
  7. Deine Genetik? – Wie du auf eine Fettabnahme und ein Kaloriendefizit reagierst, hat eine starke genetische Komponente. Zum Beispiel schränken einige Menschen ihre unbewusste Bewegung (NEAT) in einer Diät ein, während andere das nicht tun.

Ich hoffe, ich kann hier den Eindruck vermitteln, dass der Hungerstoffwechsel ein multifaktorielles Problem darstellt. Die reine Fokussierung aufunter“ oder „über“ dem Grundumsatz wird der Sache nicht gerecht.

Da das Hormon Leptin von allen oben genannten Punkten beeinflusst wird, kannst du dieses System nicht austricksen, indem du bei einem Punkt vermeintlich alles richtig machst (z. B. ein 300–500 kcal Defizit wählst). Im Gegenzug musst du bei einem anderen Punkt (z.B. 2-3 x längere Diätdauer für dasselbe Ergebnis) restriktiver vorgehen und steckst wieder in derselben Situation.

Eine Diät solltest du daher danach auswählen, was am einfachsten für dich durchführbar ist und am längsten funktioniert.

Für manche funktioniert eine schnelle Fettabnahmen mit 1–2 kg pro Woche ohne Probleme. Für andere es besser mit 0,3 – 0,5 kg pro Woche abzunehmen. Es gibt hier per se kein richtig und falsch.

“Aber … man sollte nicht DAUERHAFT „unter“ dem Grundumsatz essen”

Ja, völlig richtig. 

Man sollte auch überhaupt nicht DAUERHAFT im Kaloriendefizit sein. 

Grundsätzlich sollte man zwischen temporären Diäten und einer lebenslangen Ernährung unterscheiden. Was für begrenzte Zeit förderlich ist, kann auf die Dauer schlecht sein.

Eine Diät – mit notwendiger Kalorienrestriktion – ist immer nur für kurze Zeit zur Senkung des Körperfettanteils gedacht. Nicht als dauerhafte Lebensform.

Fazit: Der Grundumsatz ist kein magischer Kipppunkt.

Beim Abnehmen musst du den Grundumsatz nicht speziell beachten. Es passiert nichts Besonderes, wenn du mit deiner Kalorienzufuhr darüber oder darunter bist.

Fokussiere dich besser auf deinen Gesamtverbrauch. Auf den kommt es wirklich an. Dieser Gesamtverbrauch bestimmt deine Erhaltungskalorien, mit denen du weder zu- noch abnimmst.

Tipp: Willst du einen sehr guten Anhaltspunkt, wie hoch dein gesamter Kalorienverbrauch ist, verwende diesen: exakten Kalorienrechner.

Von deinem Gesamtverbrauch aus setzt du dein Defizit an (falls du abnehmen willst) oder schlägst einen Überschuss auf (falls du zunehmen möchtest). 

Dein Grundumsatz kommt in dieser Überlegung überhaupt nicht vor. Warum? Weil er keine Rolle spielt.

Dein Körper „kennt“ nur seinen gesamten Kalorienverbrauch. Er unterteilt innerlich nicht, aus welchen Komponenten sich der Kalorienverbrauch zusammensetzt.

Praktische Tipps zum Mitnehmen

  • Die wichtige Bezugsgröße ist der gesamte Kalorienverbrauch (exakten Kalorienrechner nutzen)
  • Bei kurzen intensiven Diäten von kurzer Dauer kann man auch mal in die Nähe oder unter den Grundumsatz kommen. Das ist temporär kein Problem. Vor allem, wenn du Diäten wie die HSD verwendest, die eine maximale Proteinzufuhr, essenzielle Nährstoffe und regelmäßige Refeeds integriert.
  • Bekommst du selbst bei kleinen Defiziten schnell Probleme mit dem Abnehmen, verwende zyklische Diätformen mit regelmäßigen Refeeds und Diätpausen. Alle sinnvollen zyklischen Diäten sind in der BURN-Diät zusammengefasst.
  • Selbstverständlich sollten starke Kalorieneinschränkungen nicht Bestandteil einer dauerhaften Ernährung sein.

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Über den Autor

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Johannes Steinhart ist Master of Science (M.Sc.) in Biomedizin & Ernährungswissenschaften sowie Fitnesstrainer der Deutschen Fitnesslehrer Vereinigung (DFLV). Seine Passion ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse zu Abnehmen, Muskelaufbau und Gesundheit unabhängig, verständlich und praxisnah darzustellen und verbreitete Unwahrheiten zurückzudrängen. Johannes ist Gründer von science-fitness.de (SF). Jedes Jahr erreicht er über 2 Mio. Leser. Außerdem ist er Autor von aktuell 6 Büchern. Mehr.

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