Warum gibt es große Unterschiede beim Kalorienbedarf?
Johannes Steinhart, Biomedizin (M.Sc.) & Trainer des Deutschen Fitnesslehrer Vereinigung e.V.
Oft liest oder hört man, der tägliche Kalorienbedarf einer Frau belaufe sich auf 1800 kcal.
Doch das ist so, als würde man Frauen generell Kleidergröße S empfehlen.
Diesbezüglich eine fixe Zahl zu präsentieren, ist schlichtweg unseriös. Entweder hat der Urheber keine Ahnung oder aber man versucht mit Durchschnitts-Werten zu agieren, die dir nicht weiterhelfen.
Wahr ist: Der Kalorienverbrauch von Frauen ist höchst-individuell.
Es gibt Frauen die verbrauchen 4000 kcal am Tag, andere nur 1400 kcal. Die Allermeisten liegen irgendwo dazwischen.
Der Kalorienverbrauch ist also sehr verschieden.
Aber wie kann das sein?
Wie kommt es zum individuellen Kalorienbedarf? Worauf kommt es an?
1. Gewicht / Masse – sehr entscheidend!
Die wichtigste Größe für den täglichen Kalorienbedarf ist dein Gewicht.
Denn jedes Kilogramm (kg) „Körper“ benötigt Energie für die Erhaltung von grundlegenden Funktionen.
Vor allem die Wärmeproduktion spielt hier eine große Rolle. Der Körper muss stetig auf 37° Grad gehalten werden (bei einer Umgebungstemperatur von ~20°), was ein energieintensiver Prozess ist.
Dieser Energiebedarf wird im sogenannten Grundumsatz ausgedrückt.
- Grundumsatz 50 kg-Frau: ~ 1200 kcal
- Grundumsatz 85 kg-Frau: ~ 1650 kcal
Whoops – die 85 kg-Frau hat allein schon mal 450 kcal mehr verbraucht durch die höhere Masse. Und das ist erst der Anfang.
Weiterhin muss jedes kg „Körper“ bei deiner Bewegung im Alltag oder im Training bewegt werden. Das verbraucht wieder Energie. Je schwerer du bist, desto mehr Kalorien verbraucht die Bewegung.
Schauen wir uns das genauer an.
2. Training und Bewegung
Bei der Bewegung unterscheidet man zwei Komponenten:
- Aktives Training: Krafttraining, Ausdauertraining, Kurse, andere Sportarten usw.
- Alltägliche und berufliche Bewegung (NEAT): Stehen, Herumlaufen, Einkaufen, Hausarbeit, Shoppen, Gartenarbeit – praktisch alles, was nicht sitzen oder liegen ist :) Man kann diese Aktivität sehr gut über die täglichen Schritte messen.
Bei beiden Aktivitäts-Formen sieht man, wie sich das Gewicht in der Praxis auswirkt.
50 kg Frau | 85 kg Frau | Differenz | |
---|---|---|---|
1 h Joggen (7,5 min/km) | 400 kcal | 680 kcal | +280 kcal |
1 h Krafttraining (hart) | 300 kcal | 510 kcal | +210 kcal |
1 h Krafttraining (normal) | 225 kcal | 383 kcal | +158 kcal |
5000 Schritte | 128 kcal | 217 kcal | +89 kcal |
7500 Schritte | 191 kcal | 325 kcal | +134 kcal |
10000 Schritte | 225 kcal | 434 kcal | +209 kcal |
Wie du siehst, können rasch Unterschiede von 500 kcal zwischen schweren/leichten und aktiven/inaktiven Frauen allein über Training und Bewegung zusammenkommen.
Zusammen mit dem Grundumsatz von oben sind wir jetzt schon bei gut 1000 kcal Unterschied zwischen zwei Individuen.
3. Ernährung
Als Letztes spielt überraschenderweise die Ernährung noch eine Rolle.
Ungefähr 10 % deiner zugeführten Kalorien, werden für die Aufnahme und Verstoffwechslung der Ernährung verbraucht. Dieser Teil des Kalorienverbrauchs nennt sich „Thermic effect of Food“, kurz TEF.
- Isst du 1000 kcal, werden dafür ~100 kcal verbraucht.
- Isst du 2000 kcal, werden dafür ~200 kcal verbraucht.
- Isst du 3000 kcal, werden dafür ~300 kcal verbraucht.
Daher sinkt TEF auch in einer Diät notwendigerweise ab.
Isst du hingegen genau deinen Kalorienbedarf und trainierst und bewegst dich viel (= hoher Kalorienverbrauch) hast du auch einen relativ hohen TEF-Wert.
Weil das Gewicht stark darüber entscheidet, wie viele Kalorien du pro Tag benötigst, ergeben sich auch bei gleicher Aktivität Unterschiede im TEF-Wert. Wir setzen hier mal einen „mittelaktiven Tag“ mit einer Trainingseinheit voraus, mit 5000 Schritten und 1 h Training.
- Für unsere 85 kg-Frau bedeutet das an einem mittelaktiven Tag ca. 250 kcal.
- Für die 50 kg-Frau bedeutet das an einem mittelaktiven Tag ca. 170 kcal.
Nochmal ein Unterschied von 80 kcal. Das ist nicht die Welt. Aber Kleinvieh macht auch Mist.
4. Der weibliche Zyklus
Nichts passiert im weiblichen Körper ohne, dass Östrogen und Progesteron ein gutes Wörtchen mitreden wollen.
Sofern du keine Pille nimmst, ist dein Grundumsatz in der 3. und 4. Zykluswoche um ~5 % erhöht. Da können schon noch einmal 100-200 kcal Verbrauch/Bedarf zusammenkommen.
Das liegt an der erhöhten Körpertemperatur durch gesteigerte Progesteron-Spiegel. Wie unter 1. beschrieben, ist dieses „Heizen“ eine kalorien-intensive Angelegenheit.
Somit können zwei Frauen in unterschiedlichen Zyklusphasen einen unterschiedlichen Kalorienbedarf haben, obwohl sie gleich viel wiegen und auch sonst alles identisch machen (Bewegung, Ernährung usw.).
5. Sonstige „nette“ Einfälle der Natur
Bis hier hin haben wir vor allem Unterschiede beachtet, die sich durch einfache Physik, beziehungsweise Masse, Wärme oder Bewegung ergeben.
Zwischen zwei einzelnen Frauen kann es zudem aber noch zusätzliche Differenzen durch biologische Einflüsse geben. Hier einige Beispiele:
- Gute Genetik / schlechte Genetik: 300-400 kcal Variabilität im Grundumsatz – bei gleichem Gewicht.
- Starkes Übergewicht? Nochmal ca. 100 kcal geringerer Verbrauch.
- Pille? ~50 kcal höherer Verbrauch
- Amenorrhö (= keine Periode)? ~300 kcal geringerer Verbrauch.
- Seit 10 Jahren in den Wechseljahren? ~ 150 kcal geringerer Verbrauch
Fügt man diese intra-individuelle Variabilität noch auf unsere bisher zusammengekommen 1000 kcal, ergeben sich ca. 1500 bis 1800 kcal Differenz (im Einzelfall noch mehr).
So erklärt sich, warum eine Frau 1800 kcal verbraucht und eine andere 3500 kcal. In Extremfällen kann die Spanne noch ein paar 100 kcal größer sein.
Fazit
Wenn jemand fixe Kalorienvorgaben macht, weißt du jetzt, dass solche Aussagen viel zu allgemein und praktisch ohne Wert für dich sind.
Für eine saubere Berechnung des Kalorienbedarfs muss man immer Gewicht (am besten die fettfreie Masse), Bewegung im Alltag/Beruf, aktives Training, die Ernährung und individuelle Unterschiede beachten.
So erklären sich Differenzen von 300, 500 oder sogar bis zu 2000 kcal.
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Über den Autor
Johannes Steinhart ist Master of Science (M.Sc.) in Biomedizin & Ernährungswissenschaften sowie Fitnesstrainer der Deutschen Fitnesslehrer Vereinigung (DFLV). Seine Passion ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse zu Abnehmen, Muskelaufbau und Gesundheit unabhängig, verständlich und praxisnah darzustellen und verbreitete Unwahrheiten zurückzudrängen. Johannes ist Gründer von science-fitness.de (SF). Jedes Jahr erreicht er über 2 Mio. Leser. Außerdem ist er Autor von aktuell 6 Büchern. Mehr.